Wie gestaltet sich das Leben in einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne von Anfang an den genauen Zeitpunkt seines Todes kennt? Und welche Mechanismen sind nötig, um eine Bevölkerung ohne Entwicklungsperspektiven in der Spur zu halten? Dies sind zwei zentrale Fragen, mit denen sich die Theatergruppe der Mittel- und Oberstufe des Stiftland-Gymnasiums unter der bewährten Leitung von Studiendirektorin Ina Schmelzer in ihrer Eigenproduktion einer Dystopie auf der Grundlage von Ideen des deutschen Literatur-Nobelpreisträgers Elias Canetti auseinandersetzte, welche bei zwei begeisternden Aufführungen auf die Bühne gebracht wurde.

Dabei war in jeder einzelnen der dramaturgisch überzeugenden Szenen das hohe Engagement zu spüren, mit dem die bereits in der Planungs- und Probenphase hochmotivierte Gruppe an das anspruchsvolle Sujet heranging, es an ihre eigenen Schwerpunktsetzungen anpasste, indem sie auf allzu ausufernde Dialoge und Diskurse verzichtete, und ihre Botschaft stattdessen in symbolträchtige Bilder und dramatische Handlung kleidete.

Bei der Präsentation der Geschichte war eine deutliche Zweiteilung zu erkennen. In der ersten Hälfte wurde das eher statische und monotone Leben in dieser Gesellschaft in eindrucksvollen Episoden ausschnitthaft vorgestellt. In ihr lauten die Namen der Menschen wie die Anzahl der Lebensjahre, die sie erreichen werden. Um den Hals tragen sie eine Kapsel, in der das scheinbar schicksalhaft vorherbestimmte Sterbedatum angeblich vermerkt ist. Der Kapselan – die zentrale Machtinstanz dieser Gesellschaft, eine Figur zwischen Priester und Diktator – überwacht mit seinen Schergen die Einhaltung des sogenannten Augenblicks, des Zeitpunkts des Sterbens. In diesen Szenen wird eine Welt vorgeführt, in der das zu erreichende Alter den Wert des Individuums zu bestimmen scheint; eine Welt, in der an sich aber die Langeweile regiert, in der jegliche Dynamik fehlt. Eine Welt, in der beispielsweise der junge Zehn keinen Sinn darin sieht, in die Schule zu gehen und zu lernen. Stattdessen verbringt er seine knapp bemessene Zeit damit, die Leute mit Steinen zu bewerfen.

Diese Szene nimmt in der Tat eine zentrale Position in der Inszenierung ein, stellt sie doch ein Schlüsselerlebnis für den kritischen Mann namens Fünfzig dar, das ihm endgültig die Fragwürdigkeit des Systems vor Augen führt. Der eigentliche Motor für sein Aufbegehren und die anschließende Revolution ist allerdings – auch das eine gelungene Erfindung der Theatergruppe – seine Sehnsucht nach seiner geliebten Schwester, die vor langer Zeit unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Gemeinsam mit seiner besten Freundin öffnet er die Kapseln zweier älterer Damen und stellt fest, dass diese leer sind. Damit verliert das System seine Legitimation: der Zeitpunkt des Todes ist ungewiss. Ein Gefühl von Freiheit macht sich breit. Ein kluger Schachzug der Aufführung ist in diesem Zusammenhang auch, dass gerade die anschließende Revolutionsszene ein erstes, nicht vorherbestimmtes Todesopfer fordert. Der Kapselan wird letztendlich entmachtet und Fünfzig findet seine Schwester wieder, welche vom Diktator verschleppt und in seinem Machtapparat gefangen gehalten wurde.

Wie schon so oft beeindruckten bei der Theatergruppe des SGT die souveränen schauspielerischen Leistungen, mit denen sie ausdrucksstarke Bilder auf die Bühne zauberte. Einige Szenen wirkten auf den Zuschauer wie perfekt arrangierte Gemälde. Dabei wurde auf eine naturalistische Gestaltung des Raumes völlig verzichtet. Stattdessen prägten vier verschiebbare, große Ringe das Bühnenbild. Diese Ringe wurden permanent bespielt und fungierten mal als Fenster oder Sitzgelegenheiten, mal als Verkaufsstand, Mauer oder Kerkerwände. Zudem arbeitete die Inszenierung erfolgreich mit dramaturgischen Andeutungen. Viele Aussagen und Handlungen blieben bewusst vage und mehrdeutig, einige Fragen offen, wodurch der Betrachter zur Reflexion über die existentiellen Fragen des Menschseins angeregt wurde. Alles in allem bescherte das Ensemble seinem Publikum einen sehr bewegenden Theaterabend, wofür es sich dessen herzlichen Applaus und den regen positiven Zuspruch nach den beiden Aufführungen redlich verdiente.